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Text von Dr. Ina Ewers-Schultz, Köln, 2021


Sylvie Hauptvogel – schlaf wach

Kilometerlang wäre die Literatur zum Thema Schlafen, stellte man sie nebeneinander. Das Existentielle des Schlafens wird allein daraus ersichtlich. Hinzu kämen unzählige Gespräche zwischen Freunden, Partnern, aber auch zwischen einem Arzt oder Patienten. Schlafen betrifft alle und zwar täglich und immer aufs Neue. Erst recht haben die Pandemie und die mit ihr verbundenen Sorgen uns neue Schlafprobleme beschert. Dabei scheint es so einfach und selbstverständlich, das Schlafen. Und ist es doch überhaupt nicht. Im Gegenteil: es ist ein großes Thema, das uns auch während der Wachphase beschäftigt. Oder die Frage nahelegt: Sind Schlafen oder Wachsein überhaupt so leicht voneinander zu trennen? Oder ist nicht vielmehr beides ganz eng miteinander verwoben?

Die einen schlafen gut, andere schlecht oder gar nicht. Es gibt unterschiedliche Schlaftypen, Lang- oder Kurzschläfer, die Nachteulen oder Lerchen. Die Chronobiologie hat inzwischen herausgefunden, dass unser Rhythmus genetisch festgelegt ist. Schlafen ist notwendig; es gehört als ganz wesentlicher Bestandteil zu unserem Leben dazu. Guter Schlaf ist eine Voraussetzung für ein gesundes Leben. Schlafentzug macht krank und wird sogar als Foltermethode eingesetzt. Und wenn wir schlecht schlafen, sind wir tagsüber auch nicht wirklich fit. Auch die Schlafmedizin hat sich als eigener wissenschaftlicher Bereich etabliert. In Schlaflaboren können wir unserem individuellen Schlafrhythmus auf die Spur kommen und mit Schlafcoaches Schlafstörungen kurieren. Nach neuesten Studien klagen 30 Millionen der Deutschen über Schlafstörungen aufgrund von Schichtarbeit, Überlastung sowie privaten oder beruflichen Problemen. Vor allem unser Ausgeliefertsein an das künstliche Licht bringt unsere innere Uhr gehörig durcheinander.

Interaktion im Raum

Die Wuppertaler Künstlerin Sylvie Hauptvogel beschäftigt sich seit längerem mit dem Thema Schlafen und hat die Auseinandersetzung damit künstlerisch verwandelt. Hauptvogel treiben genau solche Fragen nach den Grenzbereichen zwischen Schlafen und Wachen um, nach der großen und gegensätzlichen Bandbreite, nach Erschöpfungszuständen genauso wie nach der menschlichen Nähe des gemeinsamen Einschlafens. In ihrer Ausstellung schlaf wach finden ihre Werke nun zu einer Installation zusammen, besiedeln verschiedene Objekte Boden und Wand der Pförtnerloge der Fabrik Heeder in Krefeld. Von der Decke hängen weitere Arbeiten herab, die nicht nur den Raumeindruck ganz entscheidend mitbestimmen, sondern auch auf die anderen Objekte einwirken und ihre Bedeutung verändern. Sie sind zudem so konzipiert, dass sie im Luftzug, den der Besucher beim Gang durch den Raum oder beim Öffnen der Tür hervorruft, in leichte Bewegung geraten.

Ganz besonders und für das Thema bestimmend ist das Material, aus dem sämtliche Objekte des Ensembles bestehen und das sofort ins Auge fällt: Stoffe, die ganz offensichtlich von Schlafanzügen und Nachthemden stammen. Die gebrauchten und aussortierten Textilien erhielt die Künstlerin nach einem Aufruf als Geschenk. Andere erwarb sie second hand oder ersteigerte sie bei ebay. So kam ein Fundus zustande, der als Material die Basis für die Auseinandersetzung mit dem Thema Schlafen in all seinen Facetten bildet. Die Künstlerin zerlegte die Kleidungsstücke in ihre Bestandteile, beließ Kragen, Ärmel, Hosenbeine oder Bruststücke jedoch intakt. Erst einmal. Denn obwohl in den Objekten deutlich wiedererkennbar, sind es die Interventionen der Künstlerin, die subtilen Veränderungen dieser Teile, die Assoziationsketten beim Betrachter in Gang setzen, die erheitern, irritieren oder manchmal auch verstören. Irritierend ist es, die Einzelsegmente überall im Raum wiederzufinden, an unterschiedlichen Stellen und doch in einem engen Bezug miteinander.

Ärmel oder Hosenbeine, auf dem Boden stehend und dicht gruppiert, recken sich nach oben. Sie wirken fragil in ihrer leichten Schräge und mit ihren Dellen und zugleich aktiv in ihrem Drang, mit dem sie sich der Decke entgegen recken. Innen sind die Skulpturen mit Kragenvlies verstärkt, sodass sie zwar alleine stehen, aber doch beinahe umzufallen drohen. Jede wirkt für sich isoliert und doch sind sie eine Gruppe. Von oben schwebt eine lockere Formation der sogenannten Doppelarmknüpfmodule heran. Hier sind die Ärmel durch Haken- und Ösenbänder aneinandergeknüpft. Die langen Objekte wirken irritierend, sind doch die Ärmel fest miteinander verbunden und lösen Gedanken an Zwangsjacken aus, die eine freie Bewegung unmöglich machen. Dass die Hakenbänder, die sie fest zusammenhalten, ursprünglich für Korsagen verwendet wurden, unterstreicht die beklemmenden Gefühle. So wirken sie bedrohlich, eher wie eine Armada, die den erwartungsvoll verharrenden, immobilen Bodenskulpturen gleichsam auf die Pelle rückt.

Umrahmt wird dieses divergierende Ensemble von weiteren sehr unterschiedlichen Objekten. Ärmel hängen schlaff an der Wand. Erschlafft, als sei ihnen die Luft ausgegangen und damit jedes Leben entwichen. Ein anderes Paar kurze Ärmel mit Rüschenabschluss erscheint dagegen eher vorwitzig aus der Wand herauszuwachsen und erinnert mit dem Rosa und den fröhlichen Punkten an die Kleidervorlieben kleiner Mädchen. Und trotzdem wirken diese hängenden Ärmel auch wie amputiert und lösen ein latentes Unbehagen aus. Um die Ecke finden sich Brustteile, die ihrer Ärmel beraubt, passiv an einem Haken hängen. Gleichsam ausgeliefert, wie am Schopf gepackt. In den Brustteilen scheinen sich klaffende Löcher zu befinden. Tatsächlich sind diese Innen gleichsam durch weiße Taschen verschlossen, was den herunterhängenden Objekten eine plastischere Wirkung verleiht.

Schließlich sind da noch die Kragen, die sehr dominierend die Raumwirkung mitbestimmen. In strenger Reihung sind sie nebeneinander an die Wand gehängt und erinnern an eine Ahnengalerie. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Assoziation an höfische Porträts des spanischen Adels. Im 16. Jahrhundert war die Halskrause fester Bestandteil der gehobenen Ausgehkleidung bei Männern wie Frauen und spiegelte das strenge spanische Hofzeremoniell wider. Oder später an die Darstellungen der niederländischen Kaufleute und Bürgerlichen, die die Maler des 17. Jahrhunderts als Auftragsarbeiten malten. Hier war der große, gesteifte und eng gefaltete Kragen Teil der Amtstracht von Bürgermeistern, Senatoren und Professoren. Ganz offensichtlich unbequem und bewegungseinschränkend wirken die Kragen wie eine Art Selbstkasteiung. Die riesige Mühlsteinkrause, die die Damen um 1600 trugen entsprach dem Arbeitsethos der Calvinisten. Solche Gedanken werden schnell überlagert durch die Erkenntnis, dass die individuellen Unterschiede der einzelnen Kragen das Gesamtbild bestimmen. Jeder steht für eine Persönlichkeit und weist einen eigenen Charakter auf, was den Kragen porträtähnliche Züge verleiht. In den unterschiedlichen Ausformungen der Öffnungen, mal eirig, mal kreisrund, mal schmal, mal ausladend, erhalten die Kragen eine gleichsam individuelle Mimik. Einige wirken sogar wie weit aufgerissene Münder. Hier meint man die Schreie förmlich zu hören. Die Art des Stoffes, die Beschaffenheit, die Farbe oder das Muster, ob mit Rüsche oder ganz schlicht, entscheidet dabei ganz wesentlich zusammen mit der Ausformung der inneren Öffnung über die Wirkung.

Immer aber, bei allen Arbeiten der Künstlerin, gibt es diese Wirkungsebene. Darunter löst das verwendete Material mit den so unterschiedlichen textilen Stoffmustern zugleich Gedanken an die ursprüngliche Verwendung der Nachtkleidung aus, rufen Überlegungen an Vorlieben und vor allem auch an die Statur der ehemaligen Träger hervor– scheinen doch manche Kragen von außergewöhnlicher Größe. Überhaupt sind diese auf subtile Weise in der gesamten Ausstellung mit präsent. Die Überlegungen zu ihrem Geschmack, ihrem Aussehen und ihrem Schlafverhalten mischen sich in die Gedankenketten der Betrachter unterschwellig mit ein. Es ist das Gebrauchte, gerade nicht Neue der Stoffe, ihre Vorgeschichte, die einen eigenen Reiz ausübt. In der künstlerischen Verarbeitung und Zusammenstellung von Sylvie Hauptvogel erwachen diese alten Dinge zu einem neuen, ganz eigenen Leben, beginnen miteinander in Interaktion zu treten.

Und schließlich der Wecker. Er wacht am Rande des Raumes, zunächst fast unbemerkt. Aber er gibt den Takt vor und ist der eigentliche Herrscher über Schlaf- und Wachphasen. Letztlich strukturiert diese kleine unscheinbare Maschine wirkungsmächtig unseren gesamten Tagesablauf. Sie wird zum Symbol für unsere westliche Zivilisation mit ihrem turbokapitalistischen System, in dem jeder einzelne der Taktung von Arbeit und Freizeit, von Wachsein und Schlafen ausgeliefert ist. Unser natürlicher Schlaf-Wach-Rhythmus, unser individuelles Schlafverhalten ist dabei auf der Strecke geblieben und von den gesellschaftlichen Anforderungen überlagert. Unser Rhythmus wird von außen vorgegeben. Dabei zeigen uns Existenz und Inhalt unserer Träume jedes Mal aufs Neue, wie eng die beiden so unterschiedlichen Phasen miteinander verwoben sind. Nicht umsonst haben sich andere, wenn auch nur wenige indigene Kulturen den ursprünglichen Zusammenhang bewahren können. Bei ihnen sind die Träume Teil des Lebens und nicht nur tiefenpsychologisch zu deutender Lebensstoff. Und wenn die neue Erfindung der smart watch auch noch 24 Stunden am Tag Schritte und Herzschlag zählt und diese Daten an Konzerne, Arbeitgeber oder Versicherungen weiterleitet, haben wir noch ein weiteres Stück unseres Lebens fremder Kontrolle unterworfen.

Material mit Kontext

Die Kunst von Sylvie Hauptvogel berührt immer ganz direkt unser Leben. Dinge des Alltags sind seit vielen Jahren Ausgangspunkt ihrer Werke. Gerade die Verwendung gefundener, gesammelter, auf jeden Fall gebrauchter Materialien eröffnet diesen Kontakt ins Leben der Betrachtenden. Oft fließt die persönliche Geschichte oder mit den Ausgangsstoffen verbundene Assoziationen mit in den Arbeitsprozess ein und regen zu Fragestellungen, Neuinterpretationen oder hintergründigem Humor des daraus Entstehenden an. So etwa die Fotoalbenpapiere in der Arbeit Zartes Rosa, in denen die Familienstrukturen neu definiert werden, in den gestrickten Socken, die eine Thermoskanne umhüllen und Erinnerungen oder Gerüche bewahren sollen. Gefundene und gebrauchte Materialien, die eine eigene Geschichte mitbringen beziehungsweise in sich tragen, wie ihre handarbeitliche Verwandlung zu Kunstobjekten stellen eine Konstante im Werk der Künstlerin dar. Immer sind diese Dinge des Alltags künstlerisches Material – gleich in welcher Art und Weise sie in neue Kunstobjekte verwandelt werden.

Sind es in schlaf wach eben die gebrauchten Schlafanzüge und Nachthemden, die das Thema mitbestimmen, so wurden in früheren Werkgruppen Feinrippunterwäsche zu Modulen, Servierschürzen zu Druckstöcken oder Küchenschürzen zu Denkmälern hausfraulicher Tätigkeit oder Flusssteine zusammen mit Garn und Korsagenband zu fragil anmutenden biomorphen Skulpturen. In immer wieder neuen Ausformungen und Kontexten, bei denen es sich oft um variable Rauminstallationen handelt, spielt der Alltag, seine Erfordernisse und das familiäre oder gesellschaftliche Miteinander den basso continuo des künstlerischen Themenspektrums. Die Verwandlung ganz unspektakulärer Materialien, die keine materielle, sondern nur ideelle Wertigkeiten haben, ist dabei charakteristisch.

Aber noch immer ist die künstlerische Arbeit mit diesen Materialien eine Besonderheit und unterläuft die etablierten Kategorien des Kunstmarkts. Und das obwohl schon das arts and crafts movement Mitte des 19. Jahrhunderts um die Gleichwertigkeit von freier Kunst und Kunsthandwerk kämpfte, zu Beginn des 20. Jahrhunderts künstlerische Tradition und Wertigkeiten auf den Prüfstand gerieten und neu justiert wurden, in der Ausstellung When Attitudes Become Form, 1969, ungewöhnliche Medien und Werkformate „salonfähig“ wurden, oder Künstlerinnen wie Judy Chicago und Mariam Shapiro im Zuge feministischen Protests in den 1970er-Jahren Handarbeit und entsprechende Materialien als künstlerisches Mittel der Aneignung oder Provokation einsetzten. Andererseits: gerade in den Zeiten der zunehmenden Technisierung und Digitalisierung, in der unsere analoge Welt zunehmend in eine virtuelle überführt wird, wächst ein neues Bewusstsein für das Alltägliche und Banale, erfährt Handarbeit eine ganz eigene Wertschätzung. Und trotzdem schwingt in der Wahl dieser Arbeitsmethode latent auch immer noch die alte geschlechtsspezifische Zuweisung an Weiblichkeit und Häuslichkeit mit.

Durch ihre Arbeitsweise, ihren Umgang mit dem Material, vereint Hauptvogel unterschiedliche künstlerische Arbeitsweisen, die neben der Performance, dem Sticken oder Nähen auch Siebdruck oder malerische Eingriffe umfassen. Immer geht es darum, das Verborgene, das Geheimnisvolle, manchmal auch das Hintergründige in den Materialien und ihrem Kontext durch die künstlerische Metamorphose ins Bewusstsein zu holen. So werden Geschichten imaginiert oder neue Zusammenhänge inszeniert. Und so werden in der aktuellen Arbeit schlaf wach einzelne Objekte, mit denen sich die Künstlerin seit unterschiedlich langen Zeiträumen beschäftigt, neu gruppiert. Und in diesem Miteinander verändern sie ihre Bedeutung. Alle ihre Arbeiten lösen vielfältige Assoziationsketten aus, die uns scheinbar in die Gedankenwelt der Künstlerin mitnehmen, aber letztlich doch in unseren ureigenen Erfahrungen wurzeln.

Ina Ewers-Schultz

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