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Text von Dr. Thomas Hirsch zu dem Katalog „zartes Rosa”, 2016


Blättern in der Erinnerung

„Zartes Rosa” ist eine Inszenierung in mehreren Kapiteln, die im Schauen, nachvollziehenden Begreifen, vorsichtigen Berühren und in der Vergegenwärtigung ritualisierter Vorgänge unseres häuslichen Alltags vonstatten geht. Dieses Alltägliche erhält in seiner verknappten Ausschließlichkeit und im wiederholten beiläufigen Zugriff etwas Feierliches. Daraus lässt sich einstmals Vertrautes destillieren, das sich im Laufe der Zeit gewandelt hat oder ganz aus unserem Lebensumfeld verschwunden ist.

Auf einem Küchentisch liegt zentriert ein Fotoalbum, davor ein Stuhl zum Platznehmen. (1) Die lapidare, pragmatische Sachlichkeit des Mobiliars erinnert an das Ambiente der 1960er- und 1970er-Jahre. Dazu trägt das gehäkelte Sitzkissen bei. Es vermittelt Weichheit und Wärme, also Geborgenheit, zugleich verliert sich der Blick in seinem Rapport. Das gesponnene und gezogene Rosa hält die Werkgruppe leitmotivisch zusammen. Es kehrt schon in den Umschlagbezügen des Fotoalbums wieder. Dieses lässt im geschlossenen Zustand, großformatig und vom quadratisch wirkenden leichten Querformat in seiner Mächtigkeit unterstützt, an eine Familienchronik denken. Die subtile Sinnlichkeit reizt zum Auf- und Umblättern. Dieser Vorgang vollzieht sich (zumal immer zwei Blätter aneinander befestigt sind) (2) wie das Öffnen eines schweren Portals, hinter dem Besonderes zu erwarten ist. Wir rechnen mit verblichenen Aufnahmen von Urlaubsreisen oder Familienbildnissen oder Selbstdarstellungen im Look vergangener Jahrzehnte, einerseits mit Fremden, andererseits aber in Situationen, in denen wir uns selbst wiedererkennen. Sylvie Hauptvogels Fotoalbum spielt in seiner ganzen Anlage mit solchen Evokationen, auch - oder indem - statt der Fotos etliche leere weiße Seiten zu sehen sind.

Innerhalb der Werkgenese von Sylvie Hauptvogel schließt das Buch aus „Zartes Rosa” an das „Familienalbum” (2011) an. Aber während in diesem, breitmaschig blau umhäkelt, die transparenten Pergamin-Seiten bestickt im Buch verbleiben, hat sie Sylvie Hauptvogel nun herausgetrennt und dafür die eigentlichen Schauseiten bestickt. Dabei stellt sie Beziehungen zwischen den sich gegenüberliegenden Seiten her. Die einleitende Stickerei des Titels läuft in großformatiger Schreibschrift über vier Blätter, sie entschleunigt das Lesen und die aufmerkende Wahrnehmung und bereitet auf das Kommende vor.

Den eigentlichen Inhalt des Buches bildet, gestickt mit rosafarbenem Garn - teils mit linken bzw. rechten „vakat”-Seiten - eine zeichenhafte Abstraktion, die auf der Grundlage eines zarten Bleistiftrasters, teils konstruktiv anmutet und sich teils zu vegetativen Formationen verselbständigt. So finden sich auf den 17 Bildseiten Motive und Konstellationen des Fragmentarischen und der elaborierten Ausformung, der Aussparung und Konturierung wie auch eines geschlossenen Innenfeldes und der Durchlässigkeit nach Außen, schließlich: der kybernetischen Abfolge und der Umkreisung. In der Erhabenheit des Fadens, der im Papier auf- und abtaucht, liegt ein räumlich plastisches Moment vor. Zugleich „rahmt” der rosafarbene Einband, der aufgrund seiner Größe immer mitzusehen ist, die Seiten. Die Felder aus eng gezogenen Linien mit den Unschärfen der Stofffasern initiieren Op Art-Effekte. Dies wird noch durch die Ausschließlichkeit im weißen Grund gesteigert. Mallarmé spricht bei dem Weiß als Zwischenraum für das visuelle Ereignis der Zeichen - das hier im Medium des Buches mit der Lesbarkeit Seite für Seite von links nach rechts und vorne nach hinten anklingt - von „blancs” als inhaltsreichen Stellen. (3) Im Medium der Zeichnung als individueller Vortrag mit Nadel und Faden, präsentiert Sylvie Hauptvogel Prototypen einer allusorischen Bildsprache, welche genauso vertraut wie das Fotoalbum und das Bühnenbild seiner Präsentation wirkt. Im Gegenüber von vollflächig gefülltem, rosa gehäkelten Innencover und erster bzw. letzter „vakat”-Seite erweitert sich das Zeichnerische schließlich zur Farbfeldmalerei zwischen homogener Kontemplation und expressiver Lebhaftigkeit.

Im Gegensatz zum Formatgreifenden in der Anlage der Fäden auf dem weißen Karton kennzeichnet die Stickarbeiten auf dem Pergamin eine frei flottierende Konzentration. Sylvie Hauptvogel hat die transparenten Blätter, welche sie aus dem Album vorsichtig rausgerissen hat, mit einer oder mehreren Partien aus rosa und grünen Fäden bestickt und vor braunem Grund gerahmt. Die Partien wirken wie Treibgut. Sylvie Hauptvogel reagiert mit ihnen auf die Prägungen im Papier, die Spinnennetze, Farne und kristalline Faltungen zitieren und die sie nun mit ihren Anspielungen auf Gerüste, Knäuel, Kokons, Sterne oder Gefäße betont.

Das Pergamin selbst wird zum Schleier, hinter dem die Fäden, die als faktisches Ereignis auf ihn projiziert sind, wie ein Schatten im Luftzug auslaufen. Vor allem hier wird der Vorgang der Verletzung im Stechen der Nadel durch die Papierschicht anschaulich. Klaus Küster hat zu recht auf die Dornen der Rose hingewiesen. (4) In der Fläche des Papiers findet ein osmotischer Austausch von Innen und Außen statt. Zugleich betont das Transparente des Pergamin (5) die eigene Stofflichkeit als Hülle, unter der die zart flirrenden Enden der Fäden wie pulsierende Adern zu sehen sind. Damit aber stoßen wir weiter auf Kategorien des Haptischen und der Berührung, die an Haut und Körperlichkeit denken lassen. Im Prinzip übt Sylvie Hauptvogel Medienkritik. Sie würdigt die Fotografie mit ihrem papiernen Abzug als bereits „antiquiertes”, weil analoges Medium. Und sie ersetzt diese durch ausgesprochen langsame handwerkliche (und mithin wenig angesehenen) Vorgänge des Stickens, Häkelns und Strickens und geht damit sozusagen noch weiter in die Vergangenheit zurück (6). Damit - und mit dem Fotoalbum - schafft sie berührbare Bilder gegen die Datenflut des Infotainment mit ihrer unbegrenzten digitalen Abrufbarkeit. Sie liefert ein Plädoyer für die Reproduktion als auratischer Schöpfung vor den postindustriellen Veränderungen unseres Lebens.

Zum Werkkomplex „Zartes Rosa” gehören auch Kopfkissen, bei denen Nahaufnahmen des Gewebes in einer „Strickliesel” - der traditionellen hölzernen Röhre mit Metallhäkchen, mit dem Mädchen das Stricken lernen - auf den weißen Stoffbezug geprintet sind. Im Zoom wird die rosafarbene, von Schwarz durchbrochene Struktur als räumliche stürzende Perspektive gezeigt. Die Dynamisierung der Raster demonstriert die Manufaktur analog zum mentalen Prozess: wie eine Reise in die eigene Vergangenheit. - Das Kissen ist der Ort des Sich-Einspinnens, des Rückzugs in die Intimität und - in Folge davon - der Träume. Die Bilder der Träume speisen sich aus dem, was wir erlebt haben; für das Ertragen des Un-Heimlichen ist das lichte Rosa als bewusst gewählter, beruhigender Farbton zuständig, der noch unser Unterbewusstsein stimuliert. Bei Sylvie Hauptvogel ist das Thema der Identität unmittelbar mit der eigenen Erinnerung, Prägung, ja, der emotionalen Vorstellung von Heimat und frühen Erfahrungen verbunden. Dazu hat sie in den letzten Jahren häusliche Gegenstände aus ihrer Kindheit als Ausgangspunkt ihrer Aktionen, Objekte und Installationen genommen, etwa Wärmeflaschen, Kleidungsstücke, Waschlappen und nun also das Fotoalbum. Humorvolles trifft sich mit Nostalgischem, die Sinnlichkeit des Haptischen mit dem Überraschenden der Vorstellungen. Im Blick auf die Vergangenheit schärft Hauptvogel für die Gegenwart: Noch einmal kehren die früheren Strukturen und Texturen des Tagtäglichen auf der Netzhaut nach dem Schließen der Augen wieder.

Thomas Hirsch


(1)Bei der ersten Präsentation dieser Installation im Sparkassenforum Wuppertal im April/Mai 2015 befanden sich Tisch und Stuhl auf einem exponierenden Sockel.

(2)Zwischen diesen Blättern - also im Verborgenen - laufen die Stickereien aus.

(3)Stéphane Mallarmé, Un coup de dés, München: dtv, 2000, 223.

(4)Klaus Küster, in: Ausst.-Kat. Nach der Fotografie, Kunst in der Sparkasse, Wuppertal 2015, 7.

(5)Das Pergamin als widerstandsfähiges Transparentpapier wird im Kontext von Fotoalben aufgrund seiner motivischen Prägung auch Spinnenpapier genannt. Es wird seit Ende des 19. Jahrhunderts verwandt, um das Verkleben gegenüberliegender Fotografien zu verhindern.

(6)Tatsächlich erfüllte die traditionelle Bildwirkerei auch die Funktion der späteren Fotografie als Dokumentation.

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